Werkleitz Festival

31.5.–9.6. 2024

Ausstellung

Daniel Herrmann Kurator Alexander Klose Kurator Benjamin Steininger

Energieraps oder Weizen? Kartoffeln oder Sonnenkollektoren? Angesichts der Vielfalt gegenwärtiger Gefahrenlagen fragen sich viele, ob es richtig ist, landwirtschaftliche Flächen für Energie zu verwenden statt für die Ernährung. Sie, die Besucher:innen unserer Ausstellung, sind eingeladen, sich auf einen Parcours der Sichtweisen und Gefühlslagen über die Landwirtschaft zu begeben. Dort finden Sie keine eindeutigen Antworten, aber historische und aktuelle, spekulative und spielerische, wissenschaftliche und künstlerische Anregungen zu einer Neubetrachtung. Der Parcours erstreckt sich über zwei Stockwerke und korrespondiert mit den in fünf Boxen gezeigten Filmen.

Alles fängt mit den Aktivitäten im und um den Boden an und mit dem direkten und indirekten Zuströmen der Energie der Sonne. Beileibe nicht zum ersten Mal wird es heute als krisenhaft empfunden. Dass Landwirtschaft, Kultur und Gesellschaft aufs Engste zusammenhängen, zeigen die auf einer „crazy wall“ versammelten Bilder der Landwirtschaft aus mehreren Jahrtausenden. Nichts hat in dieser langen Geschichte so weitreichende Folgen gezeitigt wie die Industrialisierung. Wie viel fossile Energie steckt in heutigen landwirtschaftlichen Produkten? Auf einer „detective wall“ zur Stickstoff-Verschwörung können Sie einigen zentralen Zusammenhängen dieser Veränderungen auf die Schliche kommen. In einem Pflanzregal im ersten Stock schließlich begegnen sich die Spur des Traktors – die auch auf das Schlachtfeld führt –, ein Kulturpflanzen-Quartett, die „glokale“ Geschichte des Zuckers und die historische Dynamik von Kollektivierung und Kapitalisierung.

Boden

„Wir sind Erdverbundene unter Erdverbundenen.“ (Bruno Latour, Terrestrisches Manifest) Und das in einem sehr wörtlichen Sinne: Alles hängt vom Boden ab, ob Landwirtschaft, Industrie oder Städte. Und auch alles, was in dieser Ausstellung gezeigt wird, geschieht im, auf und über dem Boden oder handelt davon, vom Wachstum der Pflanzen bis zur Spekulation über Grundstückspreise. Dieses Substrat (von lateinisch: Grundlage, biologisch: Nährboden) bildet eine Grenzschicht, in der sich die Qualitäten von Gestein und Luft vermischen. Für uns Menschen ist sie überlebenswichtig, das irdene Pendant zur Atmosphäre, mit nur wenigen Dezimetern jedoch noch unendlich viel dünner und fragiler. Hervorgebracht wird sie durch die sich ergänzenden Aktivitäten von Pflanzen und der Gesamtheit aller Tiere, Bakterien und Pilze im Boden, dem sogenannten Edaphon. Dessen heimlicher Star ist die Population der Regenwürmer, auf deren unermüdliche Verdauungstätigkeit ein Großteil des neu entstehenden Bodens zurückgeführt werden kann. Abgebaut und aufgebraucht werden die Böden durch menschliche Aktivität, oft unwiederbringlich, wie bereits antike Chronisten der Landwirtschaft beschrieben haben.

Bilder der Landwirtschaft

Die Landwirtschaft gehört zu den ältesten kulturbildenden Kräften. Ihre Bilder reichen zurück bis zu den Reichen Babylons und des alten Ägypten. „Die Beherrschung der Natur durch den Menschen“, schreibt der britische Umwelthistoriker David Blackbourn, „verrät uns viel vom Wesen der menschlichen Herrschaft.“ In den Bildern der Landwirtschaft drücken sich der jeweilige historische Stand von Politik und Gesellschaft und deren Ideale aus. Mit der aufkommenden Moderne vervielfältigen sich Bilderproduktion und -verbreitung exponentiell.
Bilder aus Vergangenheit und Gegenwart geraten in den Strudel ideologisch gefärbter Erzählungen, von nationalistischen Mythen über Produktwerbung bis zu politischer Propaganda. Um diesem Strudel zu entkommen, haben wir die Bilder auf unserer crazy wall radikal dekontextualisiert und nach rein formalen Kriterien geordnet. Sie, die Besucher:innen, sind eingeladen, sich eigene Pfade durch dieses Bilderdickicht zu schlagen. Eine Auswahl von Lieblingsmotiven finden Sie außerdem zum Mitnehmen auf dem neben der Wand positionierten Postkartenständer.

Die Stickstoffverschwörung

Ohne Stickstoffverbindungen gäbe es kein Leben auf der Erde: kein Protein, keine DNA, kein Chlorophyll. Zwar ist die Atmosphäre voll von dem Rohstoff. Zur Lebensgrundlagen spendenden Bindung des Elements waren aber über Milliarden von Jahren nur Gewitterblitze und Bakterien in der Lage. Dies änderte sich erst 1913, als die chemische Industrie begann, aus Stickstoff und Wasserstoff Ammoniak zu synthetisieren – für Kunstdünger, aber auch für die Munition des Ersten Weltkriegs: „Brot und Tod“. Seither ist um diese extrem energieintensiven Verfahren eine petrochemische Superstruktur aus Konzernen, Personen und Stoffen herangewachsen. Schätzungen zufolge kann über die Hälfte der Erdbevölkerung nur dank des Einsatzes künstlichen Düngers und fossiler Energie ernährt werden. Auf der anderen Seite haben Korruption, Kriege, Massenmord und planetarische Umweltzerstörung den Aufbau dieses Systems begleitet. Unsere detective wall versammelt Indizien über mögliche „Täter“, „Opfer“, „Tatorte“ und „Verbrechen“. Wer zieht die Fäden bei diesem Komplott?

Energiekrisen

Wenn der Boden das Substrat des Lebens darstellt, so wird es erweckt durch die Tätigkeit der Sonne. Pflanzen und Wetterphänomene wie Wind, Regen und Meeresströmungen hängen unmittelbar von ihr ab. Auch alle fossilen Energieträger stellen nichts anderes als Speicher der akkumulierten Sonnenenergie ferner Vergangenheiten dar. In dem Konglomerat von ökologischen Krisen, mit denen wir heute konfrontiert sind, verbergen sich darum nicht zuletzt Energiekrisen.

Pflanzregal

Labor, Werkstatt, Verwaltung – auf dem Arbeitstisch laufen alle Fäden der modernen Landwirtschaft zusammen. Hier werden Pflanzen optimiert, Maschinen entworfen und Landschaften aufgeteilt. In unserem „Pflanzregal“, das aus den historischen Beständen des Kaufhauses stammt, verbinden sich die operativen Funktionen des Tisches mit den Archivkapazitäten des Regals. Vom Bauernkrieg zur Bodenreform zum Landgrabbing. Vom Feld zum Schlachtfeld und wieder zurück. Vom mitteldeutschen Rübenacker zur Londoner Zuckerbörse.
Im Geflecht aus Apparaten, Büchern, Fundstücken, Projektionen und Statistiken begegnen Ihnen mitteldeutsche Bruchstücke der Globalgeschichte des Rübenzuckers, Spuren des Traktors, die nach Osten und nach Westen führen, Elemente einer Geschichte der Dialektik von Kollektivierung und Kapitalisierung sowie ein Quartett der Energiekulturpflanzen, bei dem sie auch mit Kartoffel und Alge Stiche machen können.